Wo einst Europa geteilt wurde, wächst jetzt zusammen, was zusammengehört
Die Kulisse ist die halbe Botschaft. In frischem Weiß leuchtet der Liwadija-Palast hoch oben über dem blauen Schwarzen Meer. Im Hintergrund die Berge der ukrainischen Halbinsel Krim. Die frühere Residenz Zar Nikolaus II., die im Oktober ihren 100. Geburtstag feiert, hat bedeutende Besucher gesehen. Doch diesmal nimmt kaum jemand Notiz von den Fotos an den Wänden, von Stalin, Roosevelt und Churchill, die hier 1945 über Europas Zukunft entschieden. Denn heute wollen die Gäste selbst ein Kapitel Geschichte schreiben. Im einstigen Arbeitszimmer des Zaren mit seinem mächtigen Kamin residiert besuchsweise Stefan Füle, der tschechische EU-Erweiterungskommissar. Der massige, dunkelhaarige Mann, der da mit großem Gefolge den Korridor entlangkommt, ist der Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch. Noch größer sind hier nur zwei: die Box-Brüder Klitschko. Vitali ist gekommen, um als Chef einer Partei, die laut Umfragen in der Ukraine immerhin Platz vier belegen würde, seine Vision demokratischer Reformen darzulegen.
Erinnern wir uns an einen Spruch von Vitali: "Wenn die Welt zuschaut, denken auch brutale Machtmenschen darüber nach, ob sie eine friedliche Bewegung mit Gewalt niederschlagen können." Hier in Jalta schaut die Welt zu. Als an diesem Wochenende die jährliche Konferenz der Kiewer Initiative "Yalta European Strategy" begann, wollte man eigentlich ein paar Rednern zuhören: dem unverändert charismatischen Schimon Peres, dem unverändert theatralischen Tony Blair. Aber der quadratische Innenhof des Zarenschlosses mit seinen Palmen, seinem gluckernden Springbrunnen und seinen zischenden Espressomaschinen wurde zugleich zum Boxring, in dem um die Zukunft dieser Region gekämpft wurde. Wenngleich nur mit Worten, hinter denen jedoch oft genug politische, wirtschaftliche, strategische Vor- oder Nachteile stehen.
Der unsichtbare Held dieses Kampfes ist eine Frau: Julia Timoschenko, Ex-Premier, jetzt Oppositionsführerin in der Ukraine. Auch wenn ihre Mitstreiter anwesend waren - sie selbst war verhindert. Sie sitzt seit dem 5. August im Kiewer Lukjaniwka-Gefängnis in Untersuchungshaft, ihr einstiger Innenminister Juri Luzenko bereits seit neun Monaten. Es hat den Anschein, als wollten Präsident Janukowitsch und seine Mannschaft den Oppositionellen mit fragwürdigen Anklagen wegen "Amtsmissbrauchs" politisch den Garaus machen. Arseni Jazenjuk, ebenfalls Oppositionspolitiker, hatte vorige Woche versucht, die Inhaftierten zu besuchen. Er wurde ins Gefängnis vorgelassen, er wartete - umsonst, er bekam keine Besuchserlaubnis. Es reichte aber, um einen Eindruck zu bekommen: "Ich weiß nicht, wie man aus dieser Anstalt als normaler Mensch wieder herauskommt."
"Die Europäer sind doch recht zynische Leute", sagt ein Diplomat aus der Region beim Abendessen, "sie werden wegen Timoschenko ein bisschen Lärm machen, dann werden sie Ruhe geben." Dachte der Diplomat an den Fall des im Lager sitzenden russischen Unternehmers Chodorkowski? Doch es gibt zwei Unterschiede: Politiker aus der EU werden bei den Ukrainern nicht so schnell nachgeben wie bei den Russen. Außerdem will die Ukraine etwas von der EU, etwas sehr Konkretes: einen Assoziierungsvertrag, der neben Erleichterungen des Reiseverkehrs auch eine gemeinsame Freihandelszone schaffen würde.
Hier galt es anzusetzen, und hier wurde geboxt. Aleksander Kwasniewski hatte 2004, damals noch polnischer Präsident, als Vermittler seinen Beitrag geleistet, dass die friedliche Orangene Revolution in Kiew nicht blutig niedergeschlagen wurde. Jetzt sprach er fast drei Stunden unter vier Augen mit Janukowitsch. Es folgten Füle, der deutsche Europaabgeordnete Elmar Brok, Schwedens Außenminister Carl Bildt. Und plötzlich kommt Bewegung in den Fall Timoschenko: Janukowitsch sagt, die Lage bereite ihm "Schmerzen". Plötzlich ist davon die Rede, den "Amtsmissbrauch" Timoschenkos zu "entkriminalisieren". Der Justizausschuss hat dem Parlament in Kiew bereits vorgeschlagen, den entsprechenden und weitere aus sowjetischer Zeit stammende Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Offenbar, sagt ein Teilnehmer der Gespräche mit Janukowitsch, sei der Präsident bereit, seine Rivalin Timoschenko zur nächsten Wahl zuzulassen.
Jetzt sagt auch Füle etwas Neues. Der EU-Kommissar hebt in Jalta hervor, wenn die Ukraine mit Assoziierung und Freihandelsabkommen schon 80 Prozent des Gemeinschaftsrechts übernehme, dann sei das durchaus als Vorbereitung auf eine EU-Mitgliedschaft zu verstehen: "Es gibt keine Mauer am Ende dieses Prozesses." Auffällig war in Jalta, dass hochrangige russische Gäste kurzfristig abgesagt hatten, Finanzminister Aleksej Kudrin etwa. Doch Premier Wladimir Putin hat aus der Ferne reagiert: Der Weg der Ukraine Richtung EU sei "unrealistisch". Zugleich hofft er darauf, mit der geplanten Erdgasleitung South Stream im Schwarzen Meer - unter Beteiligung der deutschen Firma Wintershall - die Ukraine noch stärker als bisher energiepolitisch in die Zange nehmen zu können.
Der Erdgasstreit zwischen beiden Ländern war auch in Jalta die Begleitmusik: Kiew will die Erdgasabnahme aus Russland binnen drei Jahren von heute 40 auf sieben Milliarden senken. Manche Fabriken haben begonnen, vom Gas auf Kohle umzuschalten. Zugleich will die Ukraine den eigenen Gaskonzern Naftohas entflechten, um Investoren anzuziehen und mit Gas aus eigener Förderung der russischen Gazprom in der EU Konkurrenz machen. Was davon realistisch ist, wird die Zukunft zeigen. Klar ist nur: Harte Bandagen sind nötig. Nächste Runde im Erdgasboxen: der Besuch von Viktor Janukowitsch in Moskau am Samstag.
GERHARD GNAUCK
DIE WELT